Es ist August 2023 und gefühlt war gerade Jahresbeginn. Die Zeit rennt und an vielen Tagen renne ich mit. Die To-Do-Listen noch nicht einmal bis zur Hälfte abgehakt, falle ich am Abend ins Bett und wälze die Stunden bis zum Morgengrauen mit unfertigen Gedanken. Das war so nicht geplant – wie so vieles in den letzten Monaten. Es wird Zeit innezuhalten, die Bremse quietschend in ihre Verankerung zu heben und tief durchzuatmen. So geht’s nicht weiter. Weder in meinem Kopf noch im täglichen Leben.
Wem will ich eigentlich was beweisen?
Am Ende aller Tage möchte ich auf meine Zeit zurückblicken und sagen können: war geil! In der ganzen großen Summe hatte ich ein erfülltes und schönes Leben.
Und ganz ehrlich, diese Gedanken zu denken, das eigene Leben zu gestalten, ist ein großes Privileg.
Allein dafür bin ich dankbar. Und fürs Weitergehen, Innehalten, Durchatmen und neu ausrichten können. Für das über Bord werfen von Dingen, falschen Glaubenssätzen und manchmal auch Menschen. Loslassen. Recap 2023. Zumindest die ersten sieben Monate des Jahres, die mich mit Klarheit und Leichtigkeit begleiten sollten. So hatte ich es mir auf mein Visionboard geklebt. Neben meinen privaten und beruflichen Zielen. Federleicht war es bis heute nicht, dafür umso klarer. Vielleicht ist es auch das Alter und die damit einhergehende, vielgerühmte Weisheit. Aber machen wir uns nichts vor, manchmal knallt dir das Leben so vor den Bug, dass du nicht umhinkommst, andere und neue Wege zu beschreiten.
Statt weiter den Pfad »Da musst du durch.« oder »So ist das Leben.« und »Andere wuppen das auch.« festzutreten, biege ich ab auf »So bin ich« und »Das ist mein Tempo«. Und dann darf es richtig gut werden. Das Leben ist nämlich schön.
Mit Ruhe und Gelassenheit. Wie in dieser kleinen, wahren Geschichte von einem Fischbudenverkäufer an der Ostsee.

Auf ein Fischbrötchen mit Udo.
»Ich seh die Möwen ziehn am Hafen, das letzte Licht vorm Rausschmiss…Zähl ’ne Weile schon die Leut‘ vor mir. Wart‘ in der Schlange für’n Fisch und’n Bier.«
Ich seh die Möwen ziehn am Hafen, das letzte Licht vorm Rausschmiss…Zähl ’ne Weile schon die Leut‘ vor mir. Wart‘ in der Schlange für’n Fisch und’n Bier.Udo Lindenberg, Apache 207 – Komet I Mandy Kämpf
Ich geb’s zu. Ein wenig Text ist gemopst und ein paar Stellen wurden umgeschrieben. Doch genau dieses Lied summte sich in mein Ohr, während ich wartend am Hafen stand. Vor mir weitere zehn Personen, die von einem auf das andere Bein hibbelten. Wenn ich genau hinhörte, konnte ich den Rhythmus des alten Kinderliedes: „Ich habe Hunger, Hunger, Hunger, Hunger…“ erkennen. Dann säuselte ein imaginärer Udo weiter von Spuren im Sand. Oder waren es Fußabdrücke, die stärker als die Zeit sind? Der Hunger fraß sich langsam in mein Hirn. Mein Mann wippte mittlerweile ungeduldig auf Hacken und Ballen vor und zurück.
„Mensch, was dauert denn da so lange?“, hörte ich ihn leicht entnervt rufen. Tja, den einen verwandelt Hunger in eine Diva, den anderen macht er ungeduldig und auch etwas schroff. Nur unser Kind kippelte lächelnd auf einer Bank der Ostsee entgegen und erfreute sich an den vielen lauten Vögeln. Die Handvoll Gummibärchen in ihrer Hosentasche verschwieg sie uns gekonnt.

Wir rutschten im Schneckentempo über den Holzsteg, wobei selbst das schon übertrieben war. Der Abend löschte langsam die Lichter aus und ein letzter goldener Gruß schwappte mit dem Salzwasser über den Horizont. Endlich waren Fisch und Getränk zum Greifen nah. Ich blickte in ein freundliches Augenpaar, über einer knubbeligen Nase. Was es denn sein dürfe, fragte eine angenehme Stimme und ich lächelte dem Fischbudenmann meine Bestellung entgegen. Seine herzliche Gelassenheit entwaffnete meine schärfere Tonlage.
»Zweimal Bismarckhering bitte. Einmal davon in der Deluxe-Version.«
Fischbrötchen in der Deluxe-Version, fragst du dich gerade? Genauso ging es mir auch. Und ich bekam eines. Auf ein Mehrkornbrötchen gebettet, in cremiger Remoulade gewendet und mit frisch gezupftem Rucola garniert, servierte mir der Mann im Büdchen das leckerste Fischmenü meines Lebens. Slow Fish statt Fast Food.
Alles, was dieser blau-weiß beschürzte Hafenwirt seinen Gästen reichte, bereitete er mit Hingabe zu. Und diese brauchte Zeit. Die Brötchen dufteten kross aus einem kleinen Ofen, die Marinaden waren frisch und aus eigener Herstellung, der Fisch gut sortiert und liebevoll in sauberen Behältern platziert. Das Gemüse und die Garnierung knackten schon beim Hinsehen vor Frische. Jede Zutat wurde einzeln in die knusprigen Hälften der hellen oder dunklen Brötchen zelebriert, bevor sie als Fischbrötchen normal und deluxe über den Glastresen gereicht wurden.
Ich kann dir sagen, es war eine Geschmacksexplosion auf Zunge und Gaumen. Jede einzelne Minute des Wartens hatte sich gelohnt. Sahnig schmolz der Fisch in unseren Mündern, Kraut und Zwiebel gesellten sich zur salzigen Würze des Herings. Selbst mein Mann verdrehte genussvoll die Augen und verscheuchte sein Grummelmonster aus Bauch und Hirn. Wir nickten uns zu. Wie wir es so oft machen, wenn wir wortlos einer Meinung sind. Wir kommen wieder. Nach Glowe, auf der sonnigen Insel Rügen. An diesen hübschen Hafen, zu dem kleinem Gourmet-Fischbüdchen und dem Mann mit den freundlichen Augen.
Gut Ding will Weile haben, um unvergessen zu bleiben. Oder wie Udo und Apache es singen würden:
»Ich will ein’n Fußabdruck von mir, stärker als die Zeit.«Udo Lindenberg & Apache 207 – Komet
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